Mangelndes Wissen

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Menschen stehen auf dem Rollfeld und gehen an Bord eines US-Transportflugzeugs.
© U.S. Marines/dpa

Ohne Datenerhebung keine transparenten, demokratischen Strukturen. Die Kolumne „Gastwirtschaft“. 

Wie unglücklich muss ein Mensch sein, der sich an das Fahrgestell eines startenden Flugzeugs klammert und dann in den Tod stürzt. Es sind entsetzliche Bilder aus Afghanistan. Es sind Tote, die sowohl Biden als auch Merkel, Maas und Kramp-Karrenbauer zu verantworten haben. Das Chaos des Abzugs lässt einen an der Strategie und Rationalität der westlichen Außenpolitik verzweifeln.

Wieso wissen die westlichen Staaten auch nach 20 Jahren Besatzung und mehreren Billionen Dollar Investitionen so wenig über Afghanistan? Wieso waren die Politiker des Westens über den schnellen Sieg der Taliban überrascht? Und wieso diktiert das innenpolitisch in den USA symbolträchtige Datum des 11. Septembers einen vollständigen internationalen Truppenabzug, wo doch der Kampfeinsatz der Taliban im Winter immer schwächer ist?

Die Verantwortlichen werden sich diesen Fragen stellen müssen. Antworten weisen aber auch über die unmittelbare politische Schuldzuweisung hinaus. Denn offenbar mangelte es den Armeen und Regierungen der reichsten Länder der Erde an Wissen über fremde Kulturen, die Wirkung ihrer Investitionen und das Wiedererstarken der Feinde. An technischer Ausstattung wird es kaum gelegen haben. Informationstechnologien vom Internet über GPS zur Künstlichen Intelligenz sind maßgeblich aus der militärischen Forschung entstanden.

Aber die technischen Möglichkeiten sind offenbar nicht für sinnvolle Datenerhebungen genutzt worden. Man hätte die afghanische Bevölkerung regelmäßig befragen müssen, wie sie zur Besatzung, zu ihrer Regierung und zu ihren Streitkräften steht. Umfragen und Analysen von Daten der sozialen Medien sind zentrale Informationsquellen, um transparente und demokratische Strukturen aufzubauen. Aus diesen Erhebungen hätte man viel über die Korruption der amtierenden Regierung des Landes erfahren und reagieren können.

Moderne Datenauswertungen hätten auch mögliche Ausstiegsszenarien durchspielen können. Wären diese unter den beteiligten Streitkräften transparent diskutiert worden, wären die unterschiedlichen Interessen der amerikanischen und der europäischen Vertreter klar geworden. Mit dem Wissen wäre auch nicht die Kampfmoral der afghanischen Armee untergraben worden. Es ist Zeit über eine europäische Verteidigungsunion zu sprechen.

Die Autorin ist Soziologin. Sie arbeitet an der Jacobs University in Bremen.