Kritik ist ein Lebenselixier

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Demonstrant:innen halten während eines Protestes in der Nähe des litauisch-belarussischen Grenzübergangs östlich von Vilnius Transparente und Fahnen in den Farben der alten belarussischen Nationalflagge. Die Demonstranten fordern Freiheit für politische Gefangene in Belarus. 
© Mindaugas Kulbis/dpa

Kein Regime, das die Jugend mundtot macht, wird überleben.

Mir hat der Atem gestockt. Ich spürte diesen Stich in der Magengrube, als ich von der Entführung des Ryanair-Flugzeugs nach Weißrussland, der Verhaftung des Passagiers Roman Protassewitsch und seine verstörende Zurschaustellung im Fernsehen erfuhr.

Dieser brutale Verstoß gegen das ureigenste Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit lässt mich als Mutter physisch mitleiden. Ich sehe diesen jungen Mann, seine Freundin, die anderen Demonstranten, und ich sehe auch die vielen jungen Protestierenden und Flüchtenden in anderen Ländern. Und ich empfinde pures Unglück. In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der die alten Herrschenden, seien wir ehrlich, es sind meistens alte Herrscher, ihre eigenen Kinder foltern und mundtot machen?

Warum ist es so schwer, der Jugend zuzuhören und Kritik zu ertragen? Ich will keineswegs die Jugend von jeglichen Fehlern freisprechen. Ich bin eine Mutter und realistisch. Aber sie sind die Zukunft und kein Regime wird überleben, wenn es seine Zukunft mit Füßen tritt.

Die katholische Kirche erlebt das schmerzlich in diesen Tagen. Dabei ist Kritik ein Lebenselixier und ein unverzichtbares Korrektiv. Die westlichen Demokratien halten sich zu Gute, dass sie sich durch die regelmäßige Wahl diesem Korrektiv stellen. Auch dort liegt einiges im Argen. Aber Demokratien tolerieren Meinungsänderungen und wechseln dann ihr Führungspersonal aus. Den vielen Autokratien fehlt dieses Korrektiv. Und gerade das macht sie verwundbar. Denn wie schon Tancredi im Fim „Der Leopard“ einsieht: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert“.

Lukaschenko ist heute 66 Jahre alt. Im guten Rentenalter wie auch Putin, Xi Jinping und Erdogan. Da ist es an der Zeit, seinen Abgang zu planen. Sicher, Joe Biden ist sogar 78 Jahre. Aber sein Amtsende steht schon fest.

Regime, denen diese demokratische Nachhilfe fehlt, stoßen früher oder später an ihre biologischen Grenzen. Wenn Autokraten wollen, dass etwas Brauchbares aus ihrer Zeit überlebt, dann müssten sie rechtzeitig ihre Nach- folge regeln. Lukaschenko hat’s verpasst. Er hat die Proteste der belarussischen Kinder ignoriert. In der Geschichte wird er einen schäbigen Platz einnehmen. Wir Mütter leiden und können nur hoffen, dass gezielte Wirtschaftssanktionen wirksam sind.

Die Autorin ist Soziologin

und arbeitet an der Jacobs

University in Bremen.